Die Niederlage hat Dan Tangnes sichtlich erschüttert. Sven Senteler hat kurz vor der zweiten Pause zum 3:1 getroffen (39.). Die Zuger dominieren die Berner im Mitteldrittel nach Belieben. Das wahre, das grosse Zug ist auferstanden. Oben auf der Medientribüne beginnt der Chronist der «Berner Zeitung» den Matchbericht in den Laptop zu tippen. Er muss pressieren und zeitig, praktisch mit der Schluss-Sirene fertig sein. Ein erfahrener Kollege mit «SCB-Affinität» warnt ihn freundlich: «Es ist zu früh für den Matchbericht. Es ist noch nicht vorbei.»
Folklore am Rande eines Playoff-Spiels: Alles deutet darauf hin: Es ist vorbei. Der Matchbericht kann geschrieben werden. Die Messe ist gelesen.
Aber es ist nicht vorbei. It’s not over before the fat lady sings. Die Zuger lassen eine Möglichkeit zum 4:1 ungenutzt, und dann bleiben sie im Schlussdrittel auf schier unerklärliche Art und Weise stehen. Werden passiv. Fallen in die schlechten Gewohnheiten der Qualifikation zurück, die zu 9 Niederlagen in den letzten 10 Partien geführt hatten. Das Momentum wechselt. Der SCB, der das zweite Drittel 0:3 verloren hat, gewinnt das letzte Drittel 3:0 und das Spiel 4:3. Eine solche Wende hat es in Zug seit dem Amtsantritt von Dan Tangnes im Herbst 2018 in einem Playoff-Spiel noch nie gegeben.
Eine Niederlage zum Auftakt einer Playoff-Serie ist in der Regel kein Drama. Eher ein «Betriebsunfall». Es gibt sogar einen Trost aus der Geschichte. Am 18. April 2022 hat Zug das erste Finalspiel gegen die ZSC Lions nach einer 2:0 Führung noch 2:3 verloren. Im letzten Drittel setzt es ebenfalls ein 0:3 ab. Die Zuger sind trotzdem Meister geworden.
Kommt es wieder so wie 2022? Es gibt beunruhigende Unterschiede. 2022 zeigt Dan Tangnes selbst nach der 3. Finalniederlage keinerlei Anzeichen von Unsicherheit. Er ist die Lichtgestalt, an der sich alle orientieren und aufrichten. Und Leonardo Genoni entscheidet sich, Meister zu werden: Seine Fangquoten sind selbst bei den drei Niederlagen untadelig: 90,91, 93,10 und 92,00 Prozent. Dann steigert er sich auf 95,24, 96,30, 100 und 96,43 Prozent. Zug gewinnt den Final 4:3.
Aber jetzt ist es anders. Leonardo Genoni wird vor dem Spiel für seinen 907. Einsatz in der höchsten Liga geehrt. Nur Reto Pavoni hat gleich viele Partien bestritten. Am Dienstag in Bern wird der WM-Silberheld von 2018 alleiniger Rekordhalter. Aber wir haben am Sonntag nicht den wahren Leonardo Genoni gesehen. Er hat bloss 87,10 Prozent der Pucks abgewehrt. Der wahre Leonardo Genoni hätte höchstens zwei und nicht vier Treffer zugelassen.
Dan Tangnes ist ein grosser Trainer und kein Feigling. Er steht Rede und Antwort. Aber zum ersten Mal gibt es Differenzen zwischen seinen klugen Worten und seiner Körpersprache. Der wohl charismatischste NL-Cheftrainer kann seine Zweifel, ja die Erschütterung über die Ohnmacht beim Untergang seiner Mannschaft im letzten Drittel nicht überspielen. Er «trauert» der verpassten Chance zum 4:1 nach.
Die Frage, ob es das schlimmste letzte Drittel sei, das er in Zug erlebt habe, mag er nicht mit «Ja» beantworten. Ein Time-Out habe er beim drohenden Untergang nicht genommen. Bei der Werbepause (Power Break) habe er ja genug Zeit gehabt, um mit den Spielern zu reden. «Da hätte es keinen Sinn gemacht, kurz darauf das Gleiche zu wiederholen.»
Fast beschwörend spricht der Norweger davon, dass es jetzt gelte, die Vergangenheit auszublenden und nur noch in der Gegenwart zu leben. Bloss ja nicht zurückschauen. Um nicht zu erstarren (wie einst Lotts Ehefrau beim Verlassen von Sodom). Die letzte Phase der Qualifikation vergessen. Das wird nicht einfach sein: Zug hat 9 der letzten 10 Qualifikationspartien verloren. Nun sind es 10 Niederlagen in 11 Partien.
Auf Fehler der Spieler mag Zugs Trainer nicht eingehen. Vielmehr beschwört er «weiche» Faktoren: Körpersprache, Wille, Leidenschaft – das alles müsse besser werden. Es ist im Grunde das, was auch Lino Martschini erkannt hat. Er sagt:
Er meint damit das Verhalten vor den beiden Toren: Vor dem gegnerischen konnten sich die Zuger in den letzten 20 Minuten nicht durchsetzen und vor dem eigenen nicht mehr auf- und abräumen. Und fügt fast entschuldigend an, er könne mit seiner Postur in diesem Bereich wenig bewirken. Zugs Topskorer ist 166 Zentimeter gross und 66 Kilo leicht. Der Stürmerfloh war mit seiner Schnelligkeit, Leidenschaft und Schusskraft einer der Besten und traf zum 2:1.
Auf die boshafte Frage, ob nicht auch bessere Ausländer helfen könnten – zum Beispiel beim Powerplay – fällt Dan Tangnes nicht herein. Er ignoriert sie. Genauso wie den Vorschlag eines Chronisten, wie die Spieler für die Partie am Dienstag in Bern mit einer einzigen Umstellung so richtig aufgerüttelt werden könnten: Leonardo Genoni durch Luca Hollenstein ersetzen.
Es gibt noch ein weiteres Problem für Zug: Der SCB hat mit Jussi Tapola erstmals seit 2019 – seit Kari Jalonen – wieder einen richtigen Trainer. Ganz offensichtlich erfüllt er nebst aller fachlichen und sozialen Kompetenz die wichtigste Anforderung, auf die einst schon der grosse Napoléon so viel Wert gelegt hatte: Jussi Tapola hat Glück. Bei jeder Beförderung zum General war damals die zentrale Frage des Kaisers der Franzosen: «Aber hat der Mann auch Glück?» Auch das sollte erwähnt werden: Der SCB brauchte für die Wende, für das 3:0 im letzten Drittel auch Glück. Jussi Tapola hat – auch mit Glück – beim SCB eine Entwicklung eingeleitet, an deren Ende eigentlich der nächste SCB-Titel stehen müsste.
Wer Simon Kindschi, den Riesen mit den hölzernen Füssen und Händen, den sie in Kloten im Laufe der Saison als nicht mehr brauchbar taxiert und nach Bern abgeschoben haben, dazu bringt, in einem Playoff-Spiel in Zug Leonardo Genoni zu bezwingen (zum 3:3), ist wahrlich ein grosser Trainer. Dieses 3:3 hat die Zuger ins Herz getroffen. Da seufzten wohl nicht nur die Fans: Sogar der Kindschi macht dem Genoni ein Tor, das Ende der Welt ist nahe. Auch das ist eine Entwicklung, an deren Ende eigentlich der nächste SCB-Titel stehen sollte.
Zug ist erschüttert. Aber noch lange nicht besiegt. Unterschätze nie das Herz eines Champions! Die Zuger waren 2021 und 2022 Champions. Vor allem zwischen der 20. und 40. Minute blitzt das wahre, das meisterliche Zug taghell auf. Leonardo Genoni stoppt alle 9 Pucks. Seine Vordermänner dominieren alle drei Zonen und gewinnen das zweite Drittel 3:0 und machen aus dem 0:1 ein 3:1. Darauf baut Dan Tangnes auf. Auf diese guten Szenen. Es ist alles noch vorhanden, was es braucht, um diesen Viertelfinal zu gewinnen. Kann Zugs Trainer dafür sorgen, dass aus 20 wieder 60 gute Minuten werden? Das ist die entscheidende Frage.
Gelingt ihm das nicht, dann wird eine Entwicklung beschleunigt, an deren Ende eigentlich der nächste SCB-Titel stehen müsste.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
5,2
09.22
5,2
09.23
5,2
01.24
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte
Ironie off.